Vergissmeinnicht

24/08/2019

Es war ein warmer Tag im August und sie hatte Sommerferien. Sie lag auf der Liege im Garten und las einen Jane Austen Roman. Sie war völlig in das Leben von Elizabeth Bennet und ihren Gefühlen zu Mr. Darcy versunken als jemand durch die Haustür kam. In diesem Sommer konnte sie nicht genug von den Büchern bekommen, welche sie reifer und weiser machten. Zumindest glaubte sie, dass sie sie reifer und weiser machten. Was auch immer das in der Zeit bedeutete. Zwei Stimmen näherten sich. Eine erkannte sie als die ihrer Mutter. Einen Augenblick später wusste sie auch, wem die Zweite gehört. Es war die Stimme einer Freundin ihrer Mutter. Eine von den Freundinnen, mit denen sie tratsche, rauchte und Kaffee trank. Oder Sekt, je nach Stimmung und Gelegenheit. Eigentlich meistens Sekt. Sie wartete bis sie durch die Gartentür auf die Terrasse traten, um dann den Blick kurz von der Buchseite zu heben und die Frauen ohne ein Lächeln zu begrüßen. In dieser Zeit lächelte sie nicht oft wenn ihre Mutter in der Nähe war. Ihre Gegenwart löste eine Kälte in ihr aus, die jedes Gefühl von Heiterkeit erfror. Ihr war bewusst, dass sie ihre Mutter damit traurig machte. Und sie selbst machte es auch traurig. Es widerte sie an, wie sie sich benahm. Sie wusste nur nicht, was sie gegen diese Kälte tun konnte. Sie umhüllte sie wie ein Mantel, den sie nicht auszuziehen wusste. Die beiden Frauen grüßten fröhlich und Karin, die Freundin ihrer Mutter, stellte Fragen zur Schule, zu den Sommerferien und was es sonst so gäbe. Das Gespräch dauerte nur kurz an. Karin trug ihren Friseurkittel, in dem sie sie sonst nur in dem Salon sah, in dem sie arbeitete. Ihre Mutter trug einen Stuhl aus dem Esszimmer hoch auf die Wiese des Gartens.

Sie dachte an ihre Freundinnen, mit denen sie am Abend verabredet war. Sie dachte an den Jungen, in den ich so unsterblich verliebt war. Sie dachte an das letzte Wochenende, an dem sie mit ihren Freunden und ein paar anderen, die sie kaum kannte, weit mehr getrunken hatte, als sie vertrug und wie daneben sie sich benommen hatte. Bei dem Gedanken erfasste sie ein Gefühl von Scham und sie schob ihn schnell beiseite. Sie dachte an ihren Vater und seine Freundin, die sie einluden, am nächsten Wochenende mit ihnen ans Meer zu fahren und daran, wie traurig ihre Mutter sein wird, wenn sie davon erfuhr. Eine Welle von Zorn überkam sie. Warum musste ihre Mutter immer alles so kompliziert machen? Warum akzeptierte sie nicht die Trennung und die Krankheit? Oder zumindest könnte sie ihre Traurigkeit für sich behalten. Dann dachte sie an Elisabeth Bennet. An die Entscheidungen die sie machte, während sie auf dem Weg war, erwachsen zu werden.

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, weil etwas auf die Seiten ihres Buches flog und als sie hochblickte, spürte sie etwas in ihr Gesicht fliegen. Vielleicht hat jemand am Vortag den Rasen gemäht hat und nun wirbelten die einzelnen Halme bei einem Windstoß durch die Luft. Als sie aufschaute, sah sie ihre Mutter auf dem Stuhl sitzen und Karin hinter ihr stehen. Erst nach ein paar Sekunden bemerkte sie die Schere in Katrins Hand, mit der sie die Haare ihrer Mutter bearbeitete. Sie starrte für einige Augenblicke zu den beiden hoch, bis sie verstand, dass es keine Grashalme waren, die ihr ins Gesicht und auf die Seiten ihres Buches flogen. Ihre Mutter schaute wie benommen auf die um sie herumfliegenden Haare. Karin wechselte das Instrument. Mit dem elektrischen Rasierer in ihrer Hand bewegte sie sich nun um die halb erstarrte Frau auf dem Stuhl herum. Das herumfliegende Haar wurde kürzer. Sie schaute weg und richtete den Blick auf das Buch ohne auch nur ein Wort von dem zu verstehen, was sie vor sich hatte. Die Buchstaben verschwammen. „Hey, Maus! Schau doch mal! Sie fallen nun sowieso aus. Da dachte ich, ich komme ihnen zuvor!“ hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die wieder zu sich gekommen zu sein schien. Sie zwang sich der Aufforderung zu folgen. „Super“. Mehr brachte sie nicht raus, als sie den kahlen Kopf ihrer Mutter anstarrte. An diesem Tag verstand sie noch nicht, dass sie die Bücher nicht brauchte, um erwachsen zu werden. Es war ihr Leben, alles was um sie herum geschah, der kahle Kopf ihrer Mutter. All das ließ sie erwachsen werden. Ob sie wollte oder nicht.

- about my mother